Erziehung
Vertrauen ist gut, Kontrolle ist besser...wirklich?von Manuela
Warum es gut ist, auf Kontrolle zu verzichten
Ich kann mich nicht daran erinnern, dass mir der Drang nach Kontrolle in unserer Gesellschaft jemals so extrem vorgekommen ist wie jetzt.
Wie dieses Jahr. 2020.
Der Wunsch, alles zu kontrollieren zu müssen, um ja nicht die Kontrolle zu verlieren.
Wie anstrengend das ist! Wie anstrengend das ist?
Das sehen wir gerade nur zu gut. Sich von der Kontrolle zu befreien, heißt, dass man sich von Angst befreit. Ja, von der Angst, Macht zu verlieren. Über den Anderen und in manchen Fällen auch über sich selbst.
In diesem Artikel möchte ich dir helfen, die Denkweise hinter der Kontrolle zu verstehen und dir zeigen, wie du dich in Vertrauen üben kannst.
Ehrlich, Vertrauen ist am Besten.
Eigentlich haben wir Angst davor, die Kontrolle zu verlieren
Meine Tochter ist euphorisch. Sie hat eine Idee, rennt in ihr Zimmer und holt die Bastelkiste heraus. Als sie zu mir zurück kommt, leert sie am Fußboden die komplette Box aus. Während der Kleber unter’s Sofa rollt und sich dort vermutlich für immer versteckt, atme ich tief durch. Die vielen kleinen Teilchen im Langflorteppich, die einzelnen Bastelschnüre, die Perlen. Ja, in meinem Kopf spielen sich Szenen ab rund um’s Thema „Aufräumen“ (hier habe ich schon einmal etwas dazu geschrieben).
Möglicherweise entsteht ein Konflikt. Ein Zwiespalt zwischen meinen Bedürfnissen und ihren.
Ich habe also die Wahl:
1. Ich kann darauf bestehen, dass sie tut, was ich will. Wir eine „Schein-“ Vereinbarung treffen, deren Vollzug ich dann nachkontrolliere. Hat sie die Vereinbarung oder besprochene Handlung nicht erfüllt, dann….ja, dann kann ich so eine Drohung aussprechen (die nichts weiter ist als eine Bestrafung): „Wenn du dich nicht dran hältst, dann können wir eben nie wieder hier basteln.“
Oder
2. Ich entscheide mich für die Kommunikation von Bedürfnissen, Gefühlen, spreche Erwartungen aus. Gebe ihr Zeit, suche nach Lösungen, bei deren Findung sich mein Kind beteiligt.
Klingt trivial und nach Lummerland, fernab von der Realität – glaubst du?
Die Angst ausgenutzt zu werden
„Kontrolle“ über unsere Kinder können wir theoretisch jederzeit ausführen, weil wir als Eltern die Macht dazu besitzen.
Praktisch jedoch finde ich das unpassend, unnötig und darüber hinaus auch noch mega anstrengend. Denn was macht dieses Streben nach Kontrolle mit uns?
Es setzt alle Beteiligten unter Druck. Dein Kind soll Erwartungen erfüllen, perfekt sein, alles soll so laufen, wie du es dir vorgestellt hast. Und wenn es dann anders kommt, erzeugt es Stress, Trennung und am Ende auch noch Wut – auf allen Seiten.
Warum also all das Spiel?
Der Gedanken, der dich hier beständig treibt, ist die Sorge, dass dich dein Kind ausnutzt.
- Dass es asozial wird, keine Rücksicht nimmt auf andere Menschen.
- Dass es ein richtiger Egozentriker wird, der über Laichen geht.
- Dass es „alle Mittel ausspielt, um seinen Willen zu bekommen.“
- Dass es keine Grenzen erfährt und nimmersatt wird.
Klingt überspitzt und übertrieben, findest du? Diese Glaubenssätze können echt tief stecken.
Zwei Arten von Kontrolle
Die tragische Tatsache ist, dass diese Annahmen der Grundbaustein für Erziehungsmethoden wie Belohnung und Bestrafung sind. Es geht um die Idee, dass Kinder nur dann eine innere Kontrolle entwickeln, wenn eine äußere Kontrolle von Autoritäten mit Macht angewendet wird.
To be a parent-leader is not about controlling, but about setting things up such that no control is needed. (Naomi Aldort)
Die Idee ein Kind für sein tun zu belohnen oder zu bestrafen, also von außen zu kontrollieren, soll vermeintlich dazu führen, (faktisch bringen sie Kinder (Erwachsene auch) mit dem Mittel der Angst dazu), dass sie eine innere Kontrolle (Disziplin) entwickeln.
Sie machen sich jedoch nichts weiter als abhängig und gefügig.
- Wenn ein Kind eine Note erhält, ein Arbeitnehmer eine Lohnerhöhung – das ist extrinsische (von außen kommende) Belohnung – eine äußere Kontrolle. Es kommt also ein Anreiz von außen, der dazu führt, dass wir wegen des Anreizes von außen etwas machen. Stupides auswendig lernen, zum Beispiel. Nicht, weil wir von innen heraus (intrinsisch) zu etwas motiviert sind.
- Wenn ich einen Menschen bestrafe (z.B. durch Nachsitzen in der Schule, durch Bußgeldbescheide), dann benutze ich ebenfalls die äußere Kontrolle, damit derjenige innere Kontrolle durch die unangenehme Folge lernt.
In jeglicher dieser Beziehungen ist ein Machtverhältnis gegeben.
Einer ordnet an, der andere führt aus.
Einer „setzt Grenzen“, damit der andere „es spürt und sich zukünftig besser diszipliniert.“
Kontrolle und Disziplin
A propos: Damit einher geht auch der Gedanke der Disziplin (lat. disziplinam = lehren, ausbilden).
Im Kontext von Erziehung heißt „disziplinieren“ ausschließlich das Anordnen von Konsequenzen. Jemanden „maßregeln“ (siehe Definition Duden), in dem man etwas anordnet.
Als aufmerksame Leserin weißt du inzwischen, dass „Konsequenzen“ in diesem Kontext den Euphemismus für Bestrafung darstellt.
Es geht also immer um Gehorsam, gerade in Momenten, wo ich als Eltern jetzt (nicht) will, dass mein Kind dies oder jenes tut (z.B. mit dem Filzstift nicht die Wand anmalen, das schlafende Brüderchen aufwecken, mit Fingern im Essen matschen, Zocken statt Hausaufgaben machen usw.).
Und nicht darum, dass jemand bereit ist, etwas gelehrt zu bekommen (lernen ist im übrigen ein komplexer Vorgang!), was zu nachhaltiger Einsicht und Kompetenzen führt, die ein Leben lang anhalten.
Wie Kinder auf Kontrolle reagieren
Kinder, die beständig „kontrolliert werden“ reagieren mit Bewältigungsstrategien oder Schutzmechanismen, die sich allesamt einordnen lassen in die Reaktionweisen von Wut: Kampf, Flucht, Erstarren (=Unterwerfung):
- Sie werden trotzig und reagieren mit Widerstand
- Sie werden „frech“ und „hören nicht mehr“
- Sie täuschen, verheimlichen, lügen
- Sie reagieren mit starker Wut (weil ihre Würde verletzt wird)
- Sie ziehen sich zurück, verlieren sich in Tagträumen (flüchten)
- Sie tyrannisieren andere (nutzen ihre Macht gegenüber „Kleineren“)
- Sie verbünden sich (um zu rächen, sobald sie können)
- Sie erleiden psychosomatische Erkrankungen, siehe auch Sprichwörter wie „etwas in sich hinein fressen“ (Übergewicht sowie Appetitlosigkeit), „auf dem Zahnfleisch gehen“ (Erschöpfung, Burnout), „etwas lastete auf den Schultern (Muskelschmerzen)
- Sie entwickeln weniger Vertrauen in ihre Fähigkeiten
- Sie orientieren sich an Autoritäten, die ihnen sagen „wo es lang geht“, weil sie selbst keinen ihren inneren Kompass haben
- Sie sind ängstlich, schnell überfordert und trauen sich nichts zu, fühlen sich klein.
Daher frage dich:
- Lernt dein Kind, sich selbst und seine Fähigkeiten einzuschätzen, oder bekommt es eher ein Gefühl von Unsicherheit und Misstrauen vermittelt?
- Geht es dir bei deiner Reaktion darum, dass du der/die Erwachsene bist, und deshalb das Sagen hast?
„Man sollte sich deutlich bewusst sein, dass jedes Mal, wenn man einen anderen Menschen unnötig droht, demütigt, verletzt, beherrscht oder abweist, dies zu einem Faktor bei der Entstehung von Psychopathologie wird, auch wenn dieser Faktor nur gering ist. Man sollte erkennen, dass jeder Mensch, der freundlich, hilfsbereit, anständig, psychologisch demokratisch, liebevoll und warmherzig ist, die therapeutische Kraft darstellt, wenn auch nur eine kleine.“ (Maslow 1981)
Was kannst du also konkret tun?
Innere Kontrolle erlangen ist das Ziel
Wenn wir also wollen, dass ein Kind eine innere Belohnung erhält (nämlich z.B. das Gefühl von Stolz) und dadurch innere Kontrolle erlangt, brauchen wir andere Wege, die da heißen: Vertrauen, Freiheit und Verantwortung.
Wovor haben wir also Angst, was die Beziehung zum Kind angeht?
Glauben wir wirklich, dass ein Kind „das nie lernt“, z.B. mit Besteck zu essen, Reue zu empfinden, teilt?
Ziel ist es also, dass Kinder innere Kontrolle entwickeln. Dass sie innere Kompetenzen und Fähigkeiten entwickeln, damit sie in herausfordernden Situationen Frust aushalten können.
Dass sie es genau dann, wenn es heiß auf heiß kommt, gerade nicht die innere Kontrolle verlieren, sondern dem Sturm standhalten können. Dass sie sich selbst beherrschen können und moralische Entscheidungen treffen können, rücksichtsvoll und pflichtbewusst werden.
Dass sie Resilienz entwickeln.
Vertrauen üben statt zu kontrollieren
Sich in Vertrauen zu üben ist keine leichte Angelegenheit. Aber es lohnt sich. Für die Beziehung zwischen dir und deinem Kind, und für das Miteinander in der Familie.
Da stehen Ängste und fies Glaubenssätze im Weg (schau mal hier dazu). Und auch Sorgen. Dass vielleicht etwas schief geht. Sich jemand verletzt. Oder du nicht mehr Herr der Lage bist.
Trotz allem ist es wichtig, dass du deinem Kind Vertrauen schenkst.
Wie soll es lernen, sich selbst und in seine Fähigkeiten zu vertrauen, wenn es ihm niemand beibringt?
Wie soll es lernen, von innen heraus pflichtbewusst (oder gar moralisch) zu handeln, wenn wir mit drohendem Zeigefinger daneben stehen?
Dein Kind ist schon perfekt, wie es ist. Darin darfst du es bestärken und unterstützen. Ihm dabei helfen, das Vertrauen in sich selbst nicht zu verlieren.
Das ist schwierig und herausfordernd – gerade in unserem Alltag. Ich weiß das.
Und genau das ist so wichtig für uns Eltern zu verstehen: Der Wutausbruch, der „verbaler Wasserfall“ , den wir manchmal über unsere Kinder gießen, will dir genau das sagen:
„Du bist in Not! HÖRE, SPÜRE UND FÜHLE JETZT GENAU HIN.“
Nimm das, was ist, an um daran zu wachsen und um die Umstände, die sind, zu verändern. Um noch mal zu hinterfragen:
„Was brauche ich eigentlich?“
Wie Kinder zu disziplinierten Erwachsenen werden
Wenn wir wollen, dass unser Kind Selbstkontrolle anwendet und Regeln einhält, dann muss ich mit dem Menschen in den Diskurs gehen darüber, wie eine Regel aussehen soll und wie Bedürfnisse gewahrt werden können.
Wenn wir wollen, dass unser Kind verantwortungsvoll Entscheidungen trifft, dann müssen wir ihm/ihr eine Unmenge an Möglichkeiten bieten, wo sie das tun und üben können.
Dazu braucht es Menschen, die den Kindern Freiraum geben, Verantwortung, ihnen mitteilen in ihren (non)verbalen Botschaften, dass sie ihnen vertrauen.
Menschen, die diese langfristigen Ziele im Blick haben und anhand dessen ihre Handlungen wählen und Entscheidungen treffen.
Denn diese Entwicklung, nämlich die zu einem selbstbestimmten, wirklich disziplinierten, verantwortungsbewussten Menschen zu werden, erreichen wir mit Gehorsam nicht. Niemals.
Gordon, Thomas (2014): Die neue Familienkonferenz. Kinder erziehen ohne zu strafen. München: Heyne.
Gruen, Arno (2018): Wider den Gehorsam. Stuttgart: Klett-Cotta Verlag.
Hart, Sura / Kindle Hodson, Victoria (2007): Respektvoll miteinander leben. 7 Schlüssel zur Konfliktlösung. Paderborn: Junfermann.
Juul, Jesper (2018): Grenzen, Nähe, Respekt – Auf dem Weg zur kompetenten Eltern-Kind-Beziehung. Hamburg: Rowolt Verlag GmbH.
Siegel, Daniel J., / Bryson, Tina Payne (2016): Disziplin ohne Drama. Achtsame Kommunikation mit Kindern. Freiburg: Arbor.
Quelle Duden ‚disziplinieren‘: https://www.gesetze-im-internet.de/bgb/__1631.html