Alltag, Beziehung

Hilfe! Mein will sich nicht anziehen

von Manuela

Mein Kind will sich nicht anziehen!

Ihr müsst los und ein Kind macht keine Anstalten sich anzuziehen.
Die Uhr tickt. Deine Uhr tickt.
Erst geht es mit deinem kleinen Kind in die Krippe, danach weiter in den Kindergarten.
Beide Kinder sollen rechtzeitig kommen – wenn nicht, dann ist in der Krippe die Türe zu. Die Erfahrung hast du schon öfter gemacht. Jedes Mal, wenn du auch nur 5 Minuten „zu spät“ bist, lächelt man dich zwar freundlich an und du hörst ein „kein Problem!“, und doch kommt bei dir so etwas an wie: „Na, wieder nicht geschafft. Du kriegst es halt einfach nicht hin, ne? Ja, überforderte Mutti…“

Wenn sich dein kleines Kind dann auch noch schwer trennt, kommt dein Großes zu spät in den Kindergarten. Da fangen sie nämlich pünktlich um 8.30 Uhr im Morgenkreis an. Wer nicht da ist, muss draußen warten…

Es ist der reinste Wahnsinn. Es kostet dir unendlich viel Kraft, dieser Stress am Morgen.

Ach wie war das schön, als dein Kind noch klein war, oder?

So zwischen 0 Monaten und 1,5 Jahren. Damals, also du eben los bist, wenn du los wolltest. Du hast deinem Kind erzählt, was jetzt passiert, dass du es jetzt anziehst und ihr dann zu Oma fahrt.

Und jetzt?

Kaum ist dein Kind 2 Jahre, ändern sich sein & dein Verhalten

Jetzt steht es da mit seinen 2-5 Jahren, schaut dich grimmig an und sagt: „Ich will aber nicht!“ Oder es schüttelt den Kopf, sagt einfach nur „Nein.“

„Komm, zieh dich an, wir müssen los, in 15 Minuten müssen wir da sein. Hier, deine warme Hose. Es ist kalt draußen.“

Keine Reaktion.

„Zieh dich bitte an jetzt. So kannst du nicht raus gehen – da holst du dir einen Schnupfen. Da, deine Jacke…“
Dein Kind versteht deine Worte, dreht sich um und rennt weg.

Komm her und ZIEH DICH AN.“ Wieder keine Reaktion. Du fühlst dich ignoriert.

„Hey!“ Schimpfst du lauter. Du bist schon echt genervt.
„Aha, du kannst das wohl noch nicht, dich alleine anziehen? Ja, das können nur die Großen….“ Dein Kind lugt um die Ecke.

„Also…du musst die Jacke anziehen. Wenn du sie nicht anziehst, dann können wir heute eben nicht am Nachmittag mit Emily spielen.“
Da kommt es angetappst, reißt dir wutentbrannt die Jacke aus der Hand.

„Ach, magst du wohl doch, ja?“ sagst du vorwurfsvoll.
Geht doch. Denkst du dir. Aber eigentlich zieht es dir den Magen zusammen. Der Blick deines Kindes ist nach unten gerichtet, es schaut dich nicht an. „Blöde Mama!“ Schimpft es. Na toll, jetzt ist er auch noch trotzig und wird frech, unverschämt. Denkst du dir.

Langsam versucht sich dein Kind anzuziehen. Doch es braucht gefühlt 10 Stunden, bis es endlich im Schuh drin ist.
„Meine Güte, du brauchst ja ewig. Komm her, gib mir die, lass mich das machen.“ Entkräftet, genervt und gestresst reißt du dir den Schuh an dich und stopfst ihn an den Fuß, während dein Kind mit den Beinen strampelt – verärgert.

„Man ey, los jetzt! Wir sind zu spääät! Hör auf zu strampeln! Dass ich dich so oft bitten muss. Wir könnten so viel schneller sein, es wär alles entspannter, wenn DU dich EINFACH anziehen würdest! Was ist denn das Problem um Himmelswillen?“
Dein Kind fängt an zu wüten – es läuft auf dich zu und haut dich.

„Hör sofort auf mich zu schlagen, sonst…!!“ Drohst du.

Du packst die Rucksäcke, zerrst an seinem Arm und schiebst dein Kind zur Tür raus.
Dein Kind weint.

Widerwillig steigt es in den Fahrradanhänger ein und an der Krippe aus.

Diese Loskommen in der früh raubt dir den letzten Nerv. Es ist wirklich der stressigste Moment in deinem Mama-Alltag.
Und hat so gar nichts mit einem Miteinander zu tun, wie du es dir vorstellst.

Jeden Morgen das Gleiche.
Täglich grüßt das Murmeltier.

Warum ist das eigentlich ‚jeden Morgen‘ so ein Stress?

Nun, da gibt es viele Gründe, die genau diesen Alltagsklassiker in meinen Augen beeinflussen.

  1. Kinder haben (noch lange) kein Zeitgefühl – sie wissen nicht, was es bedeutet, zu einem bestimmten Zeitpunkt an einem bestimmten Ort zu sein. 
  2. Gesellschaftliche Erwartungen an das Kind, an uns als Person und als Familie
  3. Unsere eigenen Erwartungen an uns selbst sowie die Idee, die Erwartungen Anderer (Gesellschaft, Partner, Familie) zu erfüllen und zu entsprechen
  4. Die eigene psychische und physische Verfassung 
  5. Die Art und Weise, wie wir Erziehung denken (der Wunsch, dass dein Kind das macht, was du willst), wie viel Vertrauen wir in unser Kind haben, welche Haltung wir haben
  6. Die Entwicklungsphasen- und schritte des Kindes

Die Autonomiephase – das Streben nach Selbstbestimmung und Selbstständigkeit

Die Natur (die Evolution, Gott – such dir gerne einen Namen aus) hat das genau richtig eingerichtet: Sobald die Chance der Mutter besteht, ein weiteres Kind zu bekommen, ist für das ältere Kind die intensive Zweisamkeit mit der Mutter gezählt. Sobald ein Geschwisterkind geboren wird, wird es zwangsweise seine Mutter (und damit auch das Sinnbild für Liebe, Nähe, Zuwendung) teilen. Es ist die Zeit, wo das erste oder ältere Kind vom Dorf, der Gemeinschaft, aufgefangen wird:
Es wird, während die Mutter das Baby nährt, mehr eingebunden von Familienmitgliedern ins alltägliche Leben, ins Spiel, in die „Arbeit“. 

Die Trennung von der Mutter kann daher in dieser Zeit vom Kind leichter akzeptiert, während gleichzeitig Bindungen zu weiteren Bezugspersonen intensiver werden.

Es ist daher für das Kind nur sinnvoll und klug, wenn es bis dahin vieles selbstständig machen kann und sich von der Abhängigkeit der Eltern löst. Wenn es ohne den mütterlichen Schutz auskommen und überleben kann.
Kinder entwickeln daher in der Autonomiephase ganz natürlich ihren Willen „Dinge selbst zu tun“, die anfangs immer ein bisschen zu schwierig sind und durch Ausprobieren erforscht werden (das ist Lernen). Sie gehen kritisch mit Dingen um, die sie nicht wirklich zu 100 Prozent sicher kennen (z.B. Essen).

Die Autonomiephase ist ein Geschenk und die erste Möglichkeit für das Kind hinsichtlich seines Selbstwertgefühls und Selbstvertrauens einen riesigen Entwicklungssprung zu machen. Kinder brauchen in dieser Zeit unsere Hilfe – gerade in den Konflikten in der Eltern-Kind-Beziehung -, um zu wissen, wo es steht:

  • Was kann ich, was nicht?
  • Wer ist mein Gegenüber, das <Du>?
  • Was mag mein Gegenüber, was nicht?
  • Welche Werte gibt es in unserer Familie? Und in anderen Umgebungen?
  • Welche sozialen Normen gibt es?

Gerade hier ist es wichtig zu wissen, dass „das Verhalten der Eltern ihrem zwei- bis dreijährigen Kind gegenüber entscheiden dafür [ist], wie später dessen Pubertät verläuft.“ (Juul 2018: 84)

Was passiert also rein evolutionsbiologisch in dieser Zeit?

Neben der Erkenntnis, dass es etwas wie „Besitz“ und „Eigentum“ gibt, entwickelt das Kind etwa im dritten Lebensjahr sein „Ich“ und „Selbst“. Es fühlt sich nicht mehr eine Einheit mit der Mutter, sondern erkennt bewusst, dass es ein eigenes Lebewesen ist mit eigenen Gefühlen, Bedürfnissen, Wünschen und Plänen. Dadurch, dass es aufgrund seiner eigenen fein- und grobmotorischen wie auch sprachlichen Möglichkeiten an seine Grenzen stößt, kommt es zum kindlichen Dilemma:

Überwältigt von den eigenen Bedürfnissen und Wünschen, seinem Willen etwas zu tun im HIER und JETZT, ist es mit dem eigenen Handlungsziel überfordert. Zudem queren andere <ICHs> mit ihren Gefühlen, Bedürfnissen, Wünschen dazwischen.
Da in dieser Zeit das Kind keine Idee davon hat, wie es seinem Gegenüber in dieser Situation gehen könnte und was dessen Ziele sind (fehlende kognitive Perspektivenübernahme), kommt es nicht selten dann zu Wut- oder Trotzanfällen.

 

Ok, so viel zur Theorie – aber wie schaffe ich es jetzt, dass sich mein Kind anzieht?

Die Frage wäre: Wie schaffen wir es unser beiden Bedürfnisse zu erfüllen? Die Eltern-Kind-Beziehung hat hier nämlich den Konflikt. Du willst los (warum genau?), dein Kind will jedoch etwas anderes (was genau?).

Bedürfnis nach Selbstbestimmung: Wenn dein Kind „selber“ aktiv sein will 

Dann geht es darum, die Bedingungen dafür zu schaffen.
Maria Montessoris Prinzip „Hilf mir es selbst zu tun“ greift auch hier für mich immer. Was kannst du also tun bzw. wie kannst du den Kleiderschrank, euer Zuhause gestalten, dass dein Kind 
seine Klamotten selbst aussuchen, selbst holen und selbst in der richtigen Reihenfolge anziehen kann?

Du könntest zum Beispiel:

  1. den Kleiderschrank so umgestalten und umsortieren (nach Jahreszeiten), dass eine kleine und passende Auswahl an Klamotten bereit liegt, die deine Kind selbst zusammenstellen kann
  2. Klamotten auf Kinderhöhe hängen (Haken)
  3. Eine Klamottenstraße machen, damit dein Kind weiß, in welcher Reihenfolge es was anzieht
  4. Das Kind seine Aufgabe, das, was es gerade macht, „beenden“ lassen (z.B. sein Spiel) und dann beim Übergang von Spiel zum Anziehen begleiten

Andere Bedürfnisse

Nicht immer ist es jedoch das Thema „Selbstbestimmung“.

  1. Wenn dein Kind morgens zum Beispiel müde und verkuschelt ist, hilft tatsächlich immer Nähe (wie so oft!!!) und Hilfsbereitschaft. Es ist überhaupt nichts dabei, freundlich zu sein und dem Kind zu helfen. Viele Kinder tanken Liebe durch Hilfsbereitschaft und Zweisamkeit – dein Kind wird selbstständig, auch wenn du ihm hilfst (und lernt nebenbei noch so viel mehr über soziales Miteinander).
  2. Es ist auch angenehmer in warme Klamotten zu schlüpfen, sie also vorher auf die Heizung zu legen (ich mag das heute noch :))
  3. Es kann auch sein, dass sich dein Kind gar nicht erst ausziehen möchte morgens. Was wäre also, wenn es Abends zum Schlafen etwas trägt, was es morgens so direkt anziehen kann? (Und wenn dir dieser Gedanke Bauchschmerzen bereitet, warum?)
  4. Manchmal geht es auch um Gemeinsamkeit. Du kannst ein gemeinsames Spiel machen:
    Vielleicht zieht sogar das Lieblingskuscheltier dein Kind an? Oder erst darfst du ein Teil bei deinem Kind anziehen, danach darf dein Kind dir etwas anziehen?

So schwer es ist: Gerade in der Autonomiephase braucht dein Kind extra viel Zeit, damit es sich ausprobieren und in seinem Tempo lernen kann.

 Mir hilft hier mein eigenes Mantra: „Zeit geben um Zeit zu bekommen“

33 Alternativen statt Schreien

Du willst deinem Ärger zuvorkommen?
Du suchst Ideen um ruhig zu bleiben oder willst
zumindest einen gewaltfreien Wutausbruch?

Weiterführende Literatur 

Haug-Schnabel, Gabriele / Bensel, Joachim (2017): Grundlagen der Entwicklungspsychologie. Die ersten 10. Lebensjahre. Freiburg im Breisgau: Verlag Herder GmbH

Juul, Jesper (2018): Das Familienhaus. Wie Große und Kleine gut miteinander auskommen. München: Kösel Verlag GmbH

Kasten,  Hartmut (2014) in „Fachtexte Kita“

Kasten, Hartmut (2005): Soziale Kompetenzen. Entwicklungspsychologische Grundlagen und frühpädagogische Konsequenzen. Cornelsen.