Kommunikation, Beziehung

Sei schön brav!

von Manuela

Die Wahrheit über’s ‚brav sein‘

Es ist so ein großes Thema in so vielen Familien. Brav zu sein.

Erst neulich hat mich meine Tochter gefragt: „Mama, ich bin brav, stimmts?“
Ich war ein bisschen verwundert über diese Frage. Woher hat sie das? Und was meint sie damit? Kennt sie ‚meine‘ Bedeutung von dem, was sie da sagt? Ich habe sie direkt danach gefragt und ihre Antwort war:
„Ach, ich weiß eigentlich nicht was das bedeutet“. Dann ist sie lachend weggerannt (und ich habe erleichtert aufgeatmet).

Wir alle haben viele solcher Glaubenssätze und Erziehungsgedanken, die ich als „Alltagstalkdonts“ betitel (eine Auflistung von 40 Stück findest du hier), verinnerlicht.  Diese Ideen, wie Erziehung in unsere Augen sein muss und wie Kinder sich zu verhalten haben.

Aber was heißt das eigentlich, brav sein? Was wollen wir mit so einem Wunsch erreichen? Was macht diese Anforderung mit deinem Kind? Genau das möchte ich im heutigen Blogpost mit dir anschauen.

Was bedeutet „brav sein“?

Um einen ersten Überblick zu bekommen, hilft wie immer der Duden. Der definiert daher wie folgt:
“ (von Kindern) sich so verhaltend, wie es die Erwachsenen erwarten oder wünschen; gehorsam; artig“

Autsch.
Bei den dir bekannten Sätzen passt das schon recht gut, oder?

  • „Bleib brav sitzen.“
  • „Iss mal brav auf.“
  • „Wir machen alle ganz brav mit!“
  • „Sei brav!“

Wünschen wir uns das wirklich? Gehorsame, artige Kinder, die tun, was wir wollen? Die immer „schön brav ja und amen“ sagen?

Ich vermute, in Wahrheit wollen wir alle Kinder, die selbstbewusst, selbständig, empathisch und rücksichtsvoll sind. Kinder, die sich trauen ihre Meinung zu vertreten und die ihr Leben genießen.
Oder? Was wünschst du dir für dein Kind?

Mädchen verkleidet als Engel
Mädchen lacht in die Kamera

„Brav sein“ genauer betrachtet

Wenn mein Kind also nicht brav, sprich gehorsam oder artig ist, ist, was ist es denn dann?
Frech? Furchtbar? Ungezogen?

Und vielleicht merkst du schon, dass wir bei all der Analyse um ein Wort beständig nur das Verhalten des Kindes interpretieren und bewerten!
Und dann, wenn sich dein Kind nicht ‚brav verhält‚, mit Belehrungen und Vorwürfen attackiert wird.

Ganz spannend ist für mich der Blick hier in die Genderlinguistik, einem Unterbereich der Sprachwissenschaften, der sich mit den geschlechtsspezifischen Varietäten beschäftigt.

Beim „brav sein“ interessiert mich daher auch:

  • Ist brav sein etwas, das du eher Mädchen zuschreibst?
  • Würdest du es auch einem Jungen zu schreiben? Wenn ja, nur in einem speziellen Kontext? Oder ist ‚brav‘ gar eine Eigenschaft, die du bei einem Jungen lieber nicht sehen möchtest? Und wenn ja, warum?
  • Was bedeutet es für dich, wenn du von braven Mädchen oder braven Jungen sprichst?

Und hier alleine siehst du schon, dass unser Rollenbild, unsere Erziehung und unsere gesellschaftlichen Erwartungen an Mann oder Frau bereits früh eine Richtung bekommen kann…

Was hört dein Kind aus solchen Sätzen?

Klingt jetzt alles erst mal ganz logisch. Brav = gehorsam, artig.

Ganz so klar und einfach ist die Sache leider noch nicht. 

Ich bleibe bei der Idee, dass besonders „Mädchen brav sein sollen“, einfach deshalb, weil ich zwei Töchter habe und in meiner Wahrnehmung ‚brav‘ besonders stark mit Weiblichkeit konnotiert ist (und die Konsequenzen verherend sind bei Frauen!).
Wenn ich meine Tochter also auffordere, „brav zu sein“, wird sie herausfinden wollen, was genau das für mich bedeutet.

Sie wird etwas tun, ich werde sie zurechtweisen…solange, bis das „brave Verhalten“ erreicht ist. 
Die Botschaft, die ich vermittle ist:
So wie du jetzt bist und dich verhältst, bist du nicht in Ordnung.

So entstehen bei ihr logischerweise folgende Zusammenhänge:

  • „Erst wenn ich brav bin, bekomme ich was geschenkt“, oder
  • „Erst wenn ich brav bin, dann ist die Mama lieb zu mir.“

„Brav sein“ ist also an Bedingungen geknüpft. Erst, wenn ich mich so oder so verhalten, dann bin ich liebenswert.

Für Kinder ist das schwer zu verstehen, denn ihre Liebe gegenüber der Eltern ist immer bedingungslos. Leider tragen viele von uns dies Idee gehorsam zu sein in sich. Dadurch vermitteln wir unseren Kindern: Meine Liebe zu dir ist nicht selbstverständlich.

Dadurch entsteht ein Machtmissbrauch des Elternteils, das sein Kind mit „Liebesentzug“ bestraft, wenn es anders ist.

Was sind brave Kinder in unserer Gesellschaft also? 

Ein braves Kind erfüllt also die Erwartungen seiner Eltern.

  • Es macht in der Regel seine Eltern stolz, ist gehorsam, fällt nicht auf, ist keine Last für den anderen und ist angepasst
  • Es ist oft leistungsorientiert, um die Erwartungen von außen zu erfüllen. (logisch, oder?)

Es ist möglich, dass „brave Kinder“ den Hang zum Perfektionismus entwickeln, um die Liebe der Eltern in jedem Fall zu bekommen und eben nicht mit Liebesentzug bestraft zu werden.
Diese Tendenz beobachte ich seit Jahren nicht nur bei mir, sondern auch bei Frauen im Speziellen:

Sie arbeiten, leisten, gehen über ihre Grenzen – oft bis zur Erschöpfung – damit sie alle Erwartungen erfüllen. Und schon entsteht eine große umfangreiche Diskussion, rund um die generellen Themen wie #genderpaygap #vereinbarkeit #feminismus #Paarbeziehung und alle damit verbundenen Konflikte.

Wie sich die Anforderungen auswirken

Kinder haben Angst vor Ablehnung und besonders vor Liebesentzug, da sie evolutionsbedingt von ihren abhängig sind und an sie (emotional) gebunden sind.

Wenn Kindern also suggeriert wird, dass sie erst angenommen und geliebt wird, wenn sie brav sind, müssen sich sich anders geben, als sie in diesem Moment sind.

Es lernt schnell, dass es sich anders verhalten muss, damit es gefällt und die Eltern nicht böse auf es sind.

Somit lernt es: „Ich sage ja zu den Bedürfnissen meiner Eltern und nein zu meinen eigenen Bedürfnissen“. Das Kind nimmt sich zurück, um die Bedürfnisse, Erwartungen und Wünsche anderer zu erfüllen.

Sie erhalten also erst positive Aufmerksamkeit, wenn sie anders sind.

Junge als Engel verkleidet


Strategisch handeln

Noch heftiger wirkt sich das Ganze aus, wenn Kinder das bewusst ist und sie eine „Überlebensstrategie“ anwenden, um diesen Schmerz aushalten oder umgehen zu können.

Wenn sie strategisch handeln, anfangen vorzudenken und ihr Verhalten so ausrichten, damit sie gefallen.
Weil sie sich schlimmstenfalls sogar verantwortlich für die Gefühle der Eltern fühlen.
Ein Beispiel dazu: Ihr seid mit der Familie im Biergarten und dein Kind ist in deinen Augen zu laut. Du sagst: „Wenn du so laut rumschreist, dann schäme ich mich wegen dir“. Damit machst du dein Kind verantwortlich für deine Gefühle.

Die Entwickung von Persönlichkeitsmerkmalen

‚Brav sein‘ kann ein Persönlichkeitsmerkmal bei deinem Kind werden. Kinder entwickeln dann ein falsches Selbstbild

Manche Menschen schaffen erst im Erwachsenenalter, solche alten Glaubenssätze zu entdecken und nach und nach abzulegen. Die bessere Alternative ist meiner Meinung nach, sie unseren Kinder erst gar nicht einzupflanzen.

Erst kürzlich war ich in einem Gespräch mit einer Mama, die sagte:
„Meine Eltern haben immer gesagt, ‚du bist ruhig und introvertiert‘. Dabei entspricht das überhaupt nicht meinem Wesen. Ich wurde dazu gemacht – und habe mich dann gar nicht mehr getraut, „laut“ oder „extrovertiert“ zu sein.“
Es kann sich dadurch auch eine Menge Wut und Aggression entwickeln.

Gründe, warum Kinder eben nicht „brav“ sind

In Wahrheit gibt immer es jedoch immer einen Grund, warum ein Kind gerade laut, oder zappelig, oder was auch immer ist. Wenn es in solchen Fällen immer kritisiert wird, vermitteln wir ihm, dass es so nicht sein darf.

Kannst du dir vorstellen, dass jemand heute so mit dir umgeht? Dass du zurecht gewiesen wirst, weil du wütend bist, wenn du eine Pause brauchst, oder einfach mal genervt bist? Oder wenn du in aller Öffentlichkeit tanzt und schreist vor Freude?

„Sei brav, sonst gehen wir. Hast du gehört? Du sollst brav sein!“.
Danke, nein.

Nur wenn du dein Kind annimmst, wie es ist, mit all seinen Facetten, nur dann lernt es auch sich selbst anzunehmen, wertzuschätzen und zu lieben.

Hose am Handtuchhaken

Was kannst du tun, wenn du dir wünschst, dass dein Kind brav ist?

Wenn du in einer Situation bist, die du gerne anders hättest und dir denkst:
„Mein Gott, kann mein Kind nicht anders sein jetzt? Wie unangenehm! Wie nervig!“
Genau dann ist deine Aufgabe: Schaue weg von deinem Kind und fühle in dich hinein.

  • Was fühlst du gerade?
  • Und was brauchst DU eigentlich gerade?
  • Was genau stört dich unangenehm?
  • Und auch schaue mal genau hin: Hat dein Kind gerade ein Problem, oder du selbst? Geht es gerade um dein Kind, oder geht es in Wahrheit um dich?

Kinder sind schon eigene, wundervolle Persönlichkeiten! Sie sind schon Menschen und ja, sie sind anders als du. Einfach, weil sie nicht du sind!

Deine Aufgabe als Mama oder Papa ist es, dein Kind ins Leben zu begleiten. Du musst dein Kind nicht zu etwas machen. Unterstütze es lieber darin, sein eigenes Potenzial zu entfalten und ihm zu zeigen, wie wertvoll es ist.

Dazu gehört auch, Gefühle anzunehmen. Deine eigenen und die deines Kindes.

  • Welche Lösung für schwierige Momente gibt es außerhalb von Formungs- und Erziehungsgedanken, die da gerade sind?

Ich lade dich ein hinzuschauen, was in deiner Innenwelt los ist, wenn du gerade dabei bist an deinem Kind zu schrauben.
Denn in uns allen steckt meist durch unsere eigene Erziehung die Idee, dass wir müssten das Verhalten unserer Kinder „weg zu machen“ oder es „ändern“, indem wir strafen.

Dabei gibt es auch andere, gleichwürdige und gewaltfreie Wege.

Nämlich, in dem du dir deiner Werte klar wirst, weißt, wie du diese kommunizierst.
In dem du den Entwicklungsstand deines Kindes im Blick hast und ggf. deine Erwartungen und Anforderungen an es reduzierst.

Ja, ich bin der Überzeugung, dass es unsere Aufgabe als Eltern ist, zuerst an uns selbst zu arbeiten, unsere Glaubenssätze zu hinterfragen und Wissen anzueignen, bevor wir anfangen an unseren Kindern zu schrauben. 


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Weiterführende Literatur 

Aldort, Naomi (2017): Von der Erziehung zur Einfühlung. Wie Eltern und Kinder gemeinsam wachsen können. Freiburg im Breisgau: Arbor Verlag.

Gruen, Arno (2018): Wider den Gehorsam. Stuttgart: Klett-Cotta Verlag.

Gordon, Thomas (2012): Familienkonferenz. Die Lösung von Konflikten zwischen Eltern und Kind. München: Heyne.

Juul, Jesper (2010): Dein kompetentes Kind. Auf dem Weg zu einer neuen Wertegrundlage für die ganze Familie. Reinbek: Rowohlt Taschenbuch Verlag.

Kohn, Alfie (2016): Liebe und Eigenständigkeit. Freiburg: Arbor Verlag.

Montessori, Maria (2019): Kinder sind anders. Stuttgart: Klett-Cotta Verlag.

Rosenberg, Marshall (2001): Gewaltfreie Kommunikation. Eine Sprache des Lebens. Paderborn: Jungmann.